Litauen – Berg der Kreuze
Tach,
Genau weiß ich es nicht mehr, entweder 2006 oder 2007 haben wir eine Photoausstellung eines bekannten litauischen Photographen, Antanas Sutkus, in Petersburg besucht. Es waren alles schwarz/weiß Photographien. Er ist unter anderem berühmt für seinen Zyklus „Menschen in Litauen“, den er seit 1950 immer wieder fortführt, was ich damals alles noch nicht wußte. Zwei/drei Photos haben mich sofort in ihren Bann gezogen, es war ein Hügel und dort standen sagenhaft viele Kreuze. Über den Photographen war nicht so viel rauszubekommen in der Ausstellung. Über diesen speziellen Ort mit den Kreuzen noch weniger. Da möchte ich mal hinfahren, dachte ich. Wie das so ist, es rutschte nach hinten im Kopf. Aber es war nicht vergessen. Irgendwann habe ich dann angefangen nach dem Photographen zu suchen und versucht, etwas über diesen Hügel mit den Kreuzen rauszubekommen. Als ich das hatte, wußte ich, da mußt Du hin. Günstig war, daß er so ungefähr an meiner Strecke Berlin – St. Petersburg liegt. 2008 war ich dann endlich dort. Heute, wo ich beim Stöbern auf diese alten Photos gestoßen bin, denke ich, ich muß noch einmal an diesen Ort. (Aber wer bitte ist dieser dünne Mensch auf den Photos?).
Berg der Kreuze
Der Ort heißt „Berg der Kreuze“ (litauisch Kriziu Kalnas), er liegt etwa 10 KM von der Stadt Šiauliai (deutsch: Schaulen, polnisch: Szawle) entfernt. Es heißt zwar immer, er liegt an der Straße nach Riga, das stimmt nicht, es ist ein kleiner Umweg, den mann fahren muß, den mann aber für diesen herrlichen, außerirdisch schönen Ort aber auf jeden Fall in Kauf nehmen sollte. Der Hügel gilt als mittelalterlicher Burghügel, wobei die Burg den Namen Jurgaičiai gehabt haben und 1348 von Kreuzrittern zerstört worden sein soll. Zwischen 1991 und 1993 haben Archäologen bei Ausgrabungen Hinweise darauf gefunden, daß sich dort einst eine Holzburg befunden haben muss. Sie fanden Feuerstellen, Alltagsgegenstände und Reste von Gebäuden aus dem 14. Jahrhundert.
Geschichten zum Berg der Kreuze
Die Geschichte des „Berg der Kreuze“ beginnt vermutlich im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts. Litauen ist wie Polen katholisch. Zum Berg gibt es verschiedene Geschichten.
Ein in der Nähe wohnender Mensch war krank und versprach, wenn er wieder gesund wird, würde er auf dem Hügel ein Kreuz aufstellen. In Abweichung davon war seine Tochter krank, und im Traum erschien ihm eine Frau (eine weiße Frau) die sagte, er soll dort ein Kreuz aufstellen. Was er tat und seine Tochter wurde gesund. Menschen, die davon hörten, stellten dann auch dort Kreuze auf. Und auch heute ist es noch so, daß Menschen dorthin pilgern und ein Kreuz aufstellen. So „wächst“ der Berg der Kreuze ständig. Einige Besucher hängen auch kleine Zettel mit Bitten und Gebeten an die Kreuze.
Eine andere Geschichte erzählt von einem Fürsten aus Vilnius. Dieser habe vor 300 Jahren gegen einen anderen Fürsten prozessiert und sei an dem Berg vorbei zum Gericht nach Riga gereist. Seinen Bediensteten habe er dabei gesagt: „Wenn ich den Prozeß gewinne, werde ich auf diesem Hügel ein Kreuz aufstellen.“ Nachdem der Fürst den Prozeß gewonnen hatte, befahl er auf dem Rückweg, auf dem Hügel das Kreuz zu errichten. Die Geschichte vom Gelübde des Fürsten hat sich im ganzen Land verbreitet und bald sind neue Kreuze dazu gekommen.
Ich habe noch eine dritte Geschichte gefunden. Litauen gehörte, nach der dritten polnischen Teilung, zu Rußland. Nach dem ersten litauischen Aufstand 1831 gegen die Zaren, sollen Litauer ihre gefallenen Angehörigen dort heimlich begraben und Kreuze aufgestellt haben. Auch nach dem zweiten Aufstand von 1863 ist das geschehen. In dieser Zeit war das Aufstellen von Kreuzen an Straßenkreuzungen oder Gehöften verboten. Und schon unter den Zaren sind Kreuze zerstört worden.
Um 1900 standen 150 Kreuze auf dem Berg, 1940 waren es ungefähr 400 Kreuze. Nachdem die Sowjetunion im Juni 1940 Litauen okkupiert hatte, wurden 1940/1941 und erneut von 1945 bis 1953 mehr als 100.000 Litauer nach Sibirien deportiert. Nach Stalins Tod 1953 kehrten die Überlebenden nach und nach zurück. Sie stellten Kreuze zur Erinnerung an die im GULAG Verstorbenen auf. Ebenso errichteten viele Gläubige und ehemalige politisch Gefangene weitere Kreuze. So wurde der Berg der Kreuze zu einem litauischen Wallfahrtsort. Aber auch zu einem politischen Symbol gegen die kommunistische Herrschaft in Litauen. Nicht verwunderlich, daß der Berg ein Dorn im Auge der Kommunisten in Litauen wurde. Tatsächlich hat sich 16. Juni 1959 das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Litauens mit dem Berg beschäftigt. Es wurde beschlossen, wie nicht anders zu erwarten, den heiligen Ort zu zerstören. Eine erste Vernichtungsaktion fand am 5. April 1961 statt. Die Kreuze wurden mit Bulldozern niedergewalzt. 2179 Kreuze sind vom Berg geholt worden. Die Holzkreuze wurden verbrannt und die eisernen Kreuze wurden dem Schrott übergegeben, die Stein- und Betonkruzifixe zerschlagen und anschließend vergraben oder in den nahe liegenden Bach geworfen. Doch bereits in der nächsten Nacht wurden neue Kreuze errichtet. 1973, 1974 und 1975 wurden diese Zerstörungsaktionen wiederholt, jedoch blieb der Kreuzzug der Kommunisten gegen den Berg der Kreuze erfolglos, wodurch der Berg natürlich erst recht zum Symbol des nationalen Widerstands wurde.
Inzwischen stehen unzählige Kreuze auf dem Berg. Die vielen, unterschiedlich großen Kreuze aus Holz, Metall oder Plastik sind zudem behängt mit vielen kleinen und auch Hunderttausenden von Rosenkränzen. Auch orthodoxe Kreuze gibt es dort.
Wieviel Kreuze gibt es auf dem Berg?
Das weiß außer Gott niemand. 1990 soll es bereits 40.000 Kreuze auf dem Hügel gegeben haben. Zusätzlich stieg die Zahl der Kreuze, als im Januar 1991 im Kampf um die nationale Unabhängigkeit Litauens vierzehn Menschen bei der Erstürmung des Fernsehturms in Vilnius durch sowjetische Spezialtruppen erschossen wurden. Anfang der 1990er Jahre wurde von Studenten der Universität Vilnius ein Versuch unternommen die Kreuze zu zählen, die sich inzwischen auf einer Fläche von einem Hektar auch neben dem Berg stehen. Bei 50.000 Kreuzen haben die Studenten aufgehört zu zählen. Außerdem wurden damals die kleinen Kreuze und Rosenkränze, die an die größeren Kreuze gehängt wurden, nicht mitgezählt.
Hier gibt es viel Photos von Antanas Sutkus zusehen:
http://galeriesusannealbrecht.de/artist/antanas-sutkus/
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